Startseite“Ein Übungsatlas”. Die Atlas-Form im 20. Jahrhundert

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“Ein Übungsatlas”. Die Atlas-Form im 20. Jahrhundert

« Un Atlas pour s’exercer ». La forme-atlas au XXe siècle

"A practice atlas". The atlas form in the 20th century

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Veröffentlicht am vendredi, 12. octobre 2012

Zusammenfassung

« Un atlas pour s’exercer », « ein Übungsatlas ». C’est ainsi que Walter Benjamin décrit dans sa Petite histoire de la Photographie (1931) le livre de photographies d’August Sander Antlitz der Zeit (1929), première présentation publique du projet Menschen des 20. Jahrhunderts. En s’appuyant sur ce passage de Benjamin, qui attribue une véritable valeur épistémique et politique au projet physiognomique de Sander avec son organisation visuelle, le colloque « Ein Übungsatlas ». Die Atlas-Form im 20. Jahrhundert / « Un Atlas pour s’exercer ». La forme-atlas au XXe siècle se propose d’articuler une réflexion suivant quatre grands axes qui se croiseront à plusieurs reprises : Le statut spécifique de la « forme-atlas » en tant que dispositif d’organisation et de présentation ; Le rôle épistémique et politique des atlas au XXe siècle ; Les formes de montage déployées par les différents atlas analysés dans le cadre du colloque ; L'étude de l'atlas comme « exercice » pour « ré-apprendre à voir ».

Inserat

Gemeinsamer Studientag des Deutschen Forums für Kunstgeschichte, Paris, des NFS Bildkritik Eikones, Basel und der Universität Paris III.

Konzeption: Andreas Beyer (DFK Paris/ Eikones, Basel), Angela Mengoni (Eikones, Basel/ IUAV Venedig) und Antonio Somaini (Paris III).

Vorlegen

„Ein Übungsatlas“. So beschreibt Walter Benjamin in seiner Kleinen Geschichte der Photographie August Sanders Fotoband Antlitz der Zeit (1929), die erste Version des Projekts Menschen des XX. Jahrhunderts, einer umfassenden fotografischen Studie der deutschen Gesellschaft der 1920er Jahre, die in sieben große Kategorien eingeteilt ist: von den bürgerlichen Berufsgruppen – die Stände – bis zu den „letzten“ der Gesellschaft – die letzten Menschen – über Porträts von Frauen und von Künstlern. Benjamin zufolge stellte Sanders Sammlung eine „gewaltige physiognomische Galerie“ dar, deren politische Bedeutung mit denjenigen Galerien vergleichbar war, die Eisenstein und Pudowkin in ihren Filmen zusammenstellten. In einer historischen Zeit, in der tiefgreifende „Machtverschiebungen“ „die Ausbildung, Schärfung der physiognomischen Auffassung“ als eine „vitale Notwendigkeit“ erforderlich machten, sollten die Gesichtergalerien der Fotografen und Filmemacher das moderne Individuum dabei unterstützen, seine Zeitgenossen zu betrachten (ins Gesicht zu sehen) und die sozialen Kategorien zu überschreiten, die bald abgeschafft werden sollten: „Man mag von rechts kommen oder von links – man wird sich daran gewöhnen müssen, darauf angesehen zu werden, woher man kommt. Man wird es, seinerseits, den andern anzusehen haben.“

Aus diesen Gründen war Sanders Bildersammlung „Mehr als ein Bildbuch: ein Übungsatlas“[1] über die deutsche Gesellschaft in dieser entscheidenden Epoche.

Vor dem Hintergrund dieser Passage bei Walter Benjamin, die der Zusammenstellung und visuellen Organisation des fotografischen Korpus bei Sander einen wahren Erkenntniswert zuschreibt, möchte die Tagung „Übungsatlas. Die Atlas-Form im 20. Jahrhundert“ eine Reflexion entlang von vier Achsen und ihren Überschneidungen vorschlagen: 

1. Der spezifische Status der „Atlas-Form“ angesichts vergleichbarer Formen wie der Sammlung oder dem Archiv

Die von Benjamin angedeutete Analogie zwischen Fotografie und Kino (Eisenstein und Pudowkin) ist hier bereits indikativ: weit davon entfernt, eine einfache lineare Folge zu sein – und obwohl in Buchform publiziert – ist die Sammlung von Sander den Formen kinematografischer Montage insofern vergleichbar als jede Fotografie dank ihrer Position innerhalb des Ganzen und ihrer Gegenüberstellung mit den anderen Bildern zum Instrument „sozialen“ Wissens wird. Man könnte hier in nuce zwei „strukturelle“ Merkmale der Atlas-Form ausmachen: erstens den Erkenntniswert, der an die visuelle Präsentation von verschiedenen Teilen geknüpft ist, mit ihrer räumlichen und/oder logischen Organisation; zweitens das Potential von Orientierung, das aus dieser räumlichen und visuellen Anordnung entsteht; man könnte hier an ein „kartografisches Prinzip“ denken, demgemäß der Atlas die Elemente eines bestimmten Bereichs nicht nur versammelt und ausstellt (wie die Figur des mythologischen Atlas’, der eine ganze Welt ausstellt, indem er sie trägt), sondern zugleich das Erkundungsprinzip dieses spezifischen Bereichs liefert, und zwar nicht mit sprachlichen, sondern mit fundamental visuellen Mitteln.

Ein erster Leitfaden schlägt daher vor, diesen allgemeinen Merkmalen des Atlas als Dispositiv – Anordnung und kartografisches Prinzip – anhand von verschiedenen Atlas-Formen in den Künsten und allgemeiner in der visuellen Kultur des 20. Jahrhunderts nachzugehen. 

2. Die Rolle und das politische Potential des Atlas im 20. Jahrhundert 

Durch die Beziehungen, die sie zwischen Bildern, textuellen Anweisungen und Format stiftet, vermag die Atlas-Form neues Wissen über die Realität zu produzieren, die sie erforscht. Damit stellt sich eine Frage, die bereits im Zentrum sowohl von Benjamins Konzept der (trotz des Namens nicht logozentrischen) Lesbarkeit stand, als auch vom konstruktivistischen Prinzip, auf das sich Kracauer  bezieht, und nach dem nur die Auswahl und die Komposition eines Mosaiks ein „Erkenntnisprinzip“ aus der Masse der medial vermittelten Bilder zu ziehen vermag, die das Gedächtnis und das Bewusstsein selbst des modernen Subjekts herausfordern.[2] In manchen Fällen verfügt die Lesbarkeit, welche die Atlas-Form ermöglicht, über ein offensichtliches politisches Potential der Dekonstruktion oder der Verstärkung der historisch situierten Werte und mythischen Inhalte.

Dies ist ein zentraler Aspekt der letzten Arbeiten von Georges Didi-Huberman über das „fröhliche unruhige Wissen“ (le gai savoir inquiet) des Atlas, in einer „epistemisch-kritischen“ Perspektive, welche sich vor allem für die Operationen und die Paradigmen der Atlas-Form interessiert, statt für die technische oder mediale Spezifität der Objekte.[3] In vergleichbarer Weise werden in der kurzen Passage bei Benjamin die fotografischen Alben der Weimarer Zeit aufgrund eines gemeinsamen politischen Potentials mit dem Medium des Kinos assoziiert.

Dieser Aspekt rechtfertigt darüber hinaus , warum die Auswahl von Objekten und Werken nicht ausschließlich auf ihrer expliziten Benennung als „Atlas“ begründet ist, sondern sich vielmehr aus einer Befragung ihrer paradigmatischen Eigenschaften ergibt. 

3. Die Formen der Montage in den verschiedenen „Atlanten“

Im Einklang mit dem heuristischen Aspekt der benjaminschen Reflexion erscheint es notwendig, die spezifischen Weisen der Artikulation von visuellen, räumlichen und sinnstiftenden Beziehungen in den verschiedenen Objekten in den Blick zu nehmen. Man könnte beispielsweise die verschiedenen Theorien – und Ideologien – der Kinomontage hinsichtlich der jeweiligen Atlanten untersuchen, ebenso wie das Bild-Text Verhältnis und ähnliches.

4. Die Vorstellung vom Sehen als „Übung“, die an ein „Wiedererlernen des Sehens“ geknüpft ist

An dieser Stelle stellt sich eine Frage pragmatischer Natur zu den „Rezeptionsweisen“, welche die Atlas-Formen und ihre Implikationen nahelegen. Die Frage der Zeitlichkeit spielt hier eine zentrale Rolle, da das kartografische und „erkundende“ Prinzip immer auf eine bestimmte zeitliche Dimension abzielt und den Betrachter einer Serie von Relationen, räumlichen Indikationen und Verbindungen gegenüberstellt, die er auf eine bestimmte Weise artikulieren soll.

Es ergibt sich also eine Problematisierung des Freiheitsgrads eines mehr oder weniger „emanzipierten“ Betrachters, der sich entweder künstlerischen, explizit pädagogischen oder an die historische und literarische Narration gebundenen Objekten gegenübersieht. Der Begriff der „Übung“ führt die Idee eines Prozesses ein, der ein neues Verständnis ermöglicht; es gilt demnach, diesen Prozess in den unterschiedlichen Atlanten und sein Verhältnis zu den Dimensionen des Gedächtnisses und des historischen Wissens (oder der „Bewusstwerdung“) zu untersuchen. 

Die Tagung schlägt eine Diskussion der eben genannten Fragen anhand von einigen Objekten des 20. Jahrhunderts vor, die als Manifestationen des Dispositivs „Atlas“ betrachtet werden können, von der Kartographie zur visuellen Kunst, von der Photographie zum Kino, von Archiven zu Ausstellungen, von der Formengeschichte der Formen zur Kulturkritik. Da diese Untersuchung keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben  will, sondern ein heuristisches Vorgehen wählt, wird der berühmteste - und wahrscheinlich meist kommentierten - Atlas des XX. Jahrhunderts, Aby Warburgs Mnemosyne, hier nicht direkt als Objekt betrachtet; eher wird er die Rolle eines epistemologischen Modells behalten, auch angesichts der Reflexion, die seit nun mehr als zwanzig Jahren die visuellen Operationen dieses exemplarischen Objekts aufgezeigt hat.


[1] W. Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie, in: Ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Suhrkamp, Frankfurt a. Main 1996, S. 59-60.

[2] vgl. Siegfried Kracauer: Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland, Suhrkamp, Frankfurt a. Main 1971, S. 16.

[3] Vgl. Georges Didi-Huberman: Atlas ou le gai savoir inquiet. L’ Œil de l’histoire, 3, Minuit, Paris 2011.

Orte

  • Centre Allemand d’Histoire de l’Art
    Paris, Frankreich (75)

Daten

  • jeudi, 18. octobre 2012
  • vendredi, 19. octobre 2012
  • samedi, 20. octobre 2012

Schlüsselwörter

  • atlas, Benjamin, Sander, Jünger, Kahn, photographie, Farocki, raad, film, höch, richter, Broodthaers

Kontakt

  • Secrétariat Centre Allemand d'Histoire de l'Art
    courriel : sekretariat [at] dt-forum [dot] org

Informationsquelle

  • Secrétariat Centre Allemand d'Histoire de l'Art
    courriel : sekretariat [at] dt-forum [dot] org

Zitierhinweise

« “Ein Übungsatlas”. Die Atlas-Form im 20. Jahrhundert », Kolloquium , Calenda, Veröffentlicht am vendredi, 12. octobre 2012, https://calenda-formation.labocleo.org/223501

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